Heimo Kuchling: EIN AUSBLICK

Nach kubistischer, abstrakter und informeller Malerei und Skulptur gilt es nunmehr, die menschliche Gestalt so zu formen, daß sich in ihr der Mensch nicht nur erkennt, sondern sich so wahrnimmt, daß er sich leiblich und geistig bestätigt fühlt. Sosehr die Arbeitswelt mechanisiert ist, so sehr ist der Mensch bemüht, seinen Leib zu pflegen und zu stählen. Auf diese Weise wird für den Bildhauer die Voraussetzung dafür geschaffen, die menschliche Gestalt nicht nur als Erscheinung zu verstehen, sondern darüber hinaus den Menschen als geistiges Wesen darzustellen. Gestalt soll Form werden, sie soll über sich hinauswachsen und einen geistigen Raum schaffen. Erscheinung und Inbild sollen zusammenfallen. Sie soll nicht Abbild, sondern Bild sein.

Damit ist Hortensias Weg gekennzeichnet.

Sie zeichnet und modelliert, wie sie die menschliche Gestalt sieht: sie sieht sie nicht "anatomisch", sondern als Bauwerk, in dem sich Statik und Dynamik, Satz und Gegensatz vereinen. Kopf, Rumpf, Arme und Beine sollen nicht nur "richtig" sein, sie sollen darüber hinaus so "komponiert" sein, daß sie eine in sich stimmende Figur ergeben. Statik ist Ausdruck der Ruhe, aber auch einer Spannung, die Bewegung nach sich zieht, die rhythmisch geordnet wird. Eine Figur stimmt nur dann, wenn sie so geordnet ist, daß Statik und Bewegung durchgehend rhythmisiert sind.

Ordnung spricht den Geist an, weil sie geistigen Ursprungs ist.

Ein Beispiel: die kleine Skulptur einer Afrikanerin. Das Modell stand in der "Grundstellung". Weil diese nicht "interessant" ist, ist es besonders schwer, sie plastisch so zu formen, daß sie interessant wirkt. Das Auge nimmt die Gestalt wahr, und deshalb ist diese wichtig. Die Bildhauerin - die nicht nur Auge ist - formt diesen Leib so, daß er klar gegliedert und ausdrucksvoll erscheint. So hat er vom Kopf bis zu den Fersen charakteristische, rhythmisch geordnete und spannungsvolle Rundungen, die einmal Beine, dann Becken und Rücken sind und die im Kopf, der fast eine Kugel ist, kulminieren. Klares Stehen, kräftig ausgeformte Wölbungen - Berge und Täler - machen die Leiblichkeit der Figur aus. Statik, Rhythmik und Proportion verleihen ihr einen geistigen Gehalt. Leiblichkeit und Geistigkeit fallen zusammen, steigern sich gegenseitig, vereinen sich zu einem plastischen Werk.

Hortensia vertritt eine sogenannte gegenständliche Kunst. Diese Bezeichnung gibt dem Gegenstand eine Bedeutung in der bildenden Kunst, die er nie hatte und auch gegenwärtig nicht hat, sofern ein Bild, ein Bildwerk, in sich stimmen, Form sein soll, Einheit. Einheit ist eine geistige Forderung, also keine auf die Materie, auf den "Gegenstand" bezogene Forderung. Im furchtbaren Weltgeschehen kann nur eine Kunst sinnvoll sein, in der bildhafte Ordnung an oberster Stelle steht. Francis Bacon sagte "Große Kunst kommt immer aus einer tiefen inneren Ordnung. Selbst wenn es innerhalb dieser Ordnung instinktive und zufällige Dinge gibt, denke ich dennoch, daß auch sie dem Wunsch nach tiefer Ordnung und einer heftigen Einwirkung auf das Nervensystem entspringen". Was im internationalen Kunstbetrieb als "moderne Kunst" bezeichnet wird, bleibt diese Ordnung schuldig, und so ist ihr derzeitiger Niedergang eine logische Folge: Wo die außerkünstlerischen Mächte, seien sie in Kriegen konzentriert oder in den Bruchstellen der Wissenschaften, in höchstem Maße gefährlich werden, ist eine Kunst notwendig, die geistige Integrität als ihr höchstes Ziel - sie ist ja nicht selbstverständlich - erkennt. Und diese Integrität ist nur gegeben, wenn ein geistig - nicht aber "gegenständlich" - dominiertes Werk die zerfallende "gegenständliche" Welt als bildhafte Einheit darzustellen versucht. Wenn ich sage "versucht", so bedeutet das, daß Einheit keine Selbstverständlichkeit ist, kein immer sich einzustellendes Resultat einer künstlerischen Arbeit, sondern eine Ausnahme, ein fernes Ziel, ja eine Idee, die nicht vollkommen realisiert werden kann. Nur jener Künstler, der diese Ausnahme im Auge hat, dem sie bindende Idee ist, kann seiner Gegenwart gerecht werden. Nicht die vielzitierte Zeit - ein unbestimmbarer Begriff -, nur anschauliche Einheit, Einheit der Bildform, kann fruchtbare Richtlinie für den Schaffenden sein. Es ändert sich nicht die "Zeit", es ändert sich die Weltschau und das Weltverständnis des Menschen, und dieser Änderung kann sich niemand entziehen: Gegenwart ist immer, meinte George Braque. Der Schaffende soll endlich aus der geistigen Unverbindlichkeit einer an sich autonomen Kunst ausbrechen. Kunst ist nicht Dekor, nicht Paravent, sie ist Zeugnis, und der Künstler ist der Gegenwart verpflichtet, sei es positiv oder negativ.

Kunst ist das einzig mögliche Gegengewicht zu den zerstörerischen Kräften im Menschen.



HEIMO KUCHLING, Februar 1996, aus dem Ausstellungskatalog "ÖBV"

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